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Dr. Chris Gerbing, Laudatio Margot Witte, Sulzfeld 11.11.12

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Margot Witte »reconstruction«:: Malerei und Druckgrafik

Vernissage am 11. November 2012, Galerie im Bürgerhaus Sulzfeld Dr. Chris Gerbing, Karlsruhe

 

Meine sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Witte,

auch ich darf Sie sehr herzlich in der Galerie im Bürgerhaus begrüßen und freue mich, dass Sie so zahlreich zur Eröffnung der Ausstellung mit Arbeiten der Durlacher Künstlerin Margot Witte erschienen sind.

„Reconstruction" hat Margot Witte ihre Ausstellung betitelt. Schlägt man im Lexikon das Wort nach, so wird man aufgeklärt darüber, dass es sich um einen Begriff aus der Geschichtswissenschaft handelt, der sich auf die Nachwehen des amerikanischen Bürgerkriegs bezieht. Dabei wird darauf hingewiesen, dass der Wortsinn bezüglich der Rückeingliederung der aus den Vereinigten Staaten ausgetretenen Staaten nicht komplett erfasst wird, würde man den Begriff mit „Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes" übersetzen. Vielmehr beinhaltet er zusätzlich – und das finde ich für unseren heutigen Vormittag interessant – den Wiederaufbau, die Umformung und den technischen Begriff „Neukonstruktion".

1 Gerade die letzten beiden Bedeutungen – Umformung und Neukonstruktion – sind in Bezug auf die Arbeiten von Margot Witte besonders treffend. Denn einerseits formt sie Vorgefundenes um, andererseits konstruiert sie aus diesem Vorgefundenen in prozesshaften Arbeitsschritten neue Ansichten, Einblicke, Sichtweisen auf Themen, die uns eigentlich bekannt sind, und legt zudem gerade in ihren jüngeren Arbeiten technoid-konstruktive Raster über die Bildfragmente. Margot Witte ist dabei nicht so sehr am Individuellen interessiert. Vielmehr gilt ihr Augenmerk dem Seriellen, Stereotypen als Charakteristikum unserer Zeit.

1 Nach:

http://de.wikipedia.org/wiki/Reconstruction, Zugriff 5.11.12.

Nicht zuletzt deshalb ist Margot Witte auch am Internet, an Facebook & Co. interessiert, reflektiert dieses in ihren Arbeiten und hält uns damit den Spiegel vor. Nehmen wir beispielsweise ihre Serie der

Lookalikes: Hier mischt Margot Witte die Abbildungen so genannter Celebrities mit den Bildern von Freunden und Bekannten. Im Angesicht von solch bekannten Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe, Andy Warhol, Pablo Picasso und der Mona Lisa fängt man fast schon automatisch an zu rätseln, wer die anderen Personen wohl sein könnten – womit Margot Witte dem Betrachter subtil die Möglichkeit gibt, Realitäten und Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen. Gleichzeitig sind diese Arbeiten mit dem ihnen eigenen Verfremdungseffekt auch auf der formalen Ebene extrem spannend. Denn die Künstlerin spielt hier mit dem Wechsel aus Siebdruck und Malerei: Auf das Plexiglas ist ein Pixelraster aufgedruckt, das sich über das auf die letzte Plexiglasplatte aufgezogene Papierbild wie ein verfremdender Schleier legt. Der Effekt ist den Gemälden der Impressionisten vergleichbar, nur technischer, organisierter. Denn je näher wir an die quadratischen, objekthaften Bilder herantreten, desto diffuser wird das Motiv, desto weniger ist zu erkennen und je weiter weg wir sind, desto deutlicher ist die jeweilige Person auszumachen. Damit reiht sich Margot Witte nahtlos ein in die Liste jener Künstler wie Gerhard Richter, Sigmar Polke oder Thomas Ruff, die den als fehlerhaft empfundenen Effekt der Unschärfe und Verzerrung als eigene Ästhetik wahrnehmen und für ihre Arbeiten adaptiert haben. – Was aber angesichts der Camouflage (als was man die Untermischung Dr. Chris Gerbing, Laudatio Margot Witte, Sulzfeld 11.11.12 2

der „Leute von Nebenan" und der Portraits des weniger bildhaft bekannten Andreas Hofer bezeichnen könnte) nicht unbedingt Erkenntnisgewinn verspricht.

In dieser neuesten Serie wird außerdem offensichtlich, dass es bei Margot Witte immer auch um das Thema Raster und Rasterung geht, aber auch darum, wie die Rasterisierung sich am Rechner auflöst, zum Problem der exakten Darstellung wird. Denn der einzelne Pixel ist nun mal ein quadratisches Pünktchen, dessen Nachbarpixel sich in einem bestimmten Verhältnis zu ihm befinden muss – und das auch, was die Farbqualitäten angeht. Ansonsten nehmen wir eine Linie nicht mehr als Linie, sondern als ein ausfransendes Etwas wahr, denn es entsteht ein so genannter „Treppeneffekt", durch den sich die grafische Darstellung in einzelne, sichtbare Bildpunkte auflöst. Und genau darum geht es auch, wenn Margot Witte die Farbkombinationen, das Nebeneinander komplementärer Farben am Computer vor dem Farbauftrag mit Pinsel auf Leinwand austestet – letztlich können wir auch hier von einem Rekonstruktionsproblem sprechen. Es entsteht durch das Aufrastern, weshalb man ihm in der Computergrafik wiederum mit als Antialiasing bezeichneten Effekten der Kantenglättung entgegenwirkt.

2 Oder, im Fall von Margot Witte, mit dem Gegeneinandersetzen der passenden Farb„pixel". Insofern passt auch aus diesem Grund der Titel der Ausstellung ganz hervorragend, weil er nämlich ihr Arbeitsprinzip umschreibt.

2 Vgl.

http://computergrafik.informatiker-wissen.de/rastern-antialiasing.html, letzter Zugriff 6.11.12.

3 Schneider, Sarah Donata: Compusitionen. Zwischen medialem End- und digitalem Werdepunkt, in: AK Ludwigshafen 2012 (wie Anm.

6), S. 145.

4 Belting, Hans: Über Lügen und andere Wahrheiten der Malerei. Einige Gedanken für S.P., in: AK Bonn u.a. 1997/98, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei. Ostfildern-Ruit, S. 140.

5 AK Stuttgart 2012. Groos, Ulrike/Schimpf, Simone (Hrsg.): Rasterfahndung. Köln 2012.

6 AK Ludwigshafen 2012. Spieler, Reinhard/Scheuermann, Barbara (Hrsg.): Punkt.Systeme. Vom Pointilismus zum Pixel. Ludwigshafen 2012.

Durch die Nutzbarmachung der Neuen Medien (nicht zuletzt im langen Windschatten der Erfindung der Fotografie) veränderten sich, generell gesagt, die Rahmenbedingungen für das Entstehen von Bildern, aber auch für deren Rezeption ganz entscheidend. Das lässt sich ganz hervorragend an den Arbeiten von Margot Witte nachvollziehen. Denn wir werden – und davon wird gleich noch zu sprechen sein – als Betrachter dazu aufgefordert, mit neuen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen zu experimentieren, sie zu erproben. Dadurch wird aber der Betrachter auf eine Weise aktiviert, die der gängigen Rezeption eines Kunstwerks widerspricht – weshalb Sarah Donata Schneider in ihrem Buchbeitrag zum Ausstellungskatalog „Punkt.Systeme" vorschlägt, bei computergenerierter Kunst nicht mehr vom Betrachter, sondern vom Nutzer – also dem User – zu sprechen. Denn „es handelt sich bei computergenerierter Kunst zumeist um Werke, die die Beziehung zwischen Betrachter und Bild variieren." Entgegen üblicher Wahrnehmungsmuster beim Betrachten von Kunst verläuft hier der Prozess des Erkennens vom Detail zum Ganzen, was „eine andere Form der Aufmerksamkeit und besonders die Kraft der Vorstellung erfordert."

3 Oder, um es mit dem Kunsthistoriker Hans Belting zu sagen: „Darstellung ist die Störung im Muster, die wir mit Sinn füllen. Das Gegenständliche ist eine Illusion der Wahrnehmung, die sich mit der Lücke im Muster füllt. Wir glauben, durch den Raster hindurch zu blicken, als läge dasjenige dahinter, was wir sehen. Die Lüge im Raster ist die Wahrheit in der Wahrnehmung." 4

Meine Damen und Herren, dass die Fragen nach Raster, Punkt und Pixel ganz offensichtlich zeitaktuelle Fragen mit einer großen Relevanz für die Kunst sind, davon zeugen die Ausstellungen „Rasterfahndung" in Stuttgart

5 und „Punkt.Systeme" in Ludwigshafen6, die beide unlängst erst zu Dr. Chris Gerbing, Laudatio Margot Witte, Sulzfeld 11.11.12 3

Ende gegangen sind. Beide setzten sich mit dem Raster in der Kunst nach 1945 auseinander, beide kamen zu dem Ergebnis, dass Punkte, Pixel und Rastersysteme wie keine andere Struktur die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bestimmen. Wobei die amerikanische Kunsthistorikerin Hannah B. Higgins, die sich mit dem Raster als künstlerischem Ordnungssystem sehr intensiv auseinandergesetzt, selbiges als eine grundlegende Kulturtechnik, als Strukturprinzip und Denkmodell seit den Anfängen der Menschheit herausarbeitet hat:

7 Von der Stadtplanung bis zu Bürogrundrissen, von Containern über die Grafik bis hin zur Computergrafik – es sind „ineinandergreifende Rastersysteme, [die] das Gitternetz der Moderne im 20. Jahrhundert [aufspannen]."8 Das Raster in der Malerei leitet sich dabei aus der generellen Gleichsetzung von Raster und Modernität ab, wobei es im 20. Jahrhundert erstmals als autonomes Bildthema auftaucht. Insofern liegt Margot Witte mit ihren Arbeiten voll im Trend. Denn in ihren Arbeiten spielt das Raster als Ordnungssystem und Strukturierungsmethode eine, wenn nicht die maßgebliche Rolle. Sie zerlegt Motive, setzt sie aufgerastert wieder zusammen, schichtet hintereinander, legt Ebenen übereinander, konstruiert und dekonstruiert, und erschafft auf diese Weise ganz moderne, vielschichtige Bilder.

7 Higgins, Hanna

h B.: The Grid Book. Cambridge 2009.

8 Higgins, Hannah B.: Plastic Fantastic, in: AK Stuttgart 2012 (wie Anm.

5), S. 22.

9 Vgl.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sampling, Zugriff 6.11.2012.

Doch halt! Sind es Bilder? Oder Druckgrafiken? Oder vielleicht doch eher Collagen? Und zuvor habe ich von am Computer generierter Kunst im Hinblick auf Margot Witte gesprochen – wie passt das zusammen? Ich denke, diese ganzen Etikette greifen bei ihren Arbeiten zu kurz, denn ihre Kunstwerke entstehen in aufwändigen Arbeitsprozessen, zu denen Zwischenschritte am Computer, Siebdrucke und Malschichten gehören, wobei sie immer wieder auch die Zwischenergebnisse am Rechner verifiziert, modifiziert und erneut auf den Bildträger überträgt. Sie übermalt per Siebdruck aufgebrachte Flächen, die unter den Malschichten durchscheinen, weil sie selbst wiederum partiell übermalt werden, wofür Margot Witte dann auch die notwendigen Masken anfertigt. Dabei schöpft sie mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit all jene Möglichkeiten aus, die sich ihr bieten.

Malerei, Druckgrafik, Fotografie und die Bearbeitung am Computer führen also bei Margot Witte eine gänzlich natürliche Koexistenz, die – man muss es deutlich hervorheben – erst seit kurzem eine Selbstverständlichkeit sind. Es ist ein gänzlich modernes, zeitgemäßes Arbeiten, das man gut als „Sampling" bezeichnen könnte. Denn wie in der Musik konservierte Töne neu be- und verarbeitet werden, nutzt Margot Witte Vorlagen, die abgeändert, verfremdet, parzelliert und erneut mit verschiedenen Techniken auf den Bildträger aufgebracht werden. Oder sie erklärt das Sampling selbst zum Prinzip, wie bei ihren gänzlich freien Arbeiten, in denen sie Farbreste vermischt, diese vermalt, das Ergebnis scannt, auf ein Sieb aufträgt und einen Siebdruck daraus macht. Dieses Procedere wiederholt sie mehrfach, wodurch Arbeiten entstehen, bei denen das Crossover der Techniken im Vordergrund steht, mit denen sie aber auch auf zeitaktuelle Weise gestische Malerei reflektiert. Insofern greift hier auch die weitere Definition des Sampling, das über die Musik hinaus als eine „allgemeine Kulturtechnik der Postmoderne" bezeichnet wird.

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Die dritte Definition von Sampling ist in Bezug auf Margot Witte ebenso interessant wie treffend: In der Nachrichtentechnik meint der Begriff das Registrieren, das Abtasten von Messwerten zur Signalverarbeitung. – Auch wenn ich es ja eigentlich nicht sagen soll, aber, liebe Frau Witte, ich finde in Ihren Bildern immer wieder frappierende Bezüge zu Ihrer ersten Profession. Die gelernte Radio- und Fernsehtechnikerin tritt mir in den Assoziationen und Begriffen, die ich für Ihre Arbeiten finde, in vielerlei Weise entgegen. Wobei aber ganz klar ist, dass sich Ihre Arbeiten auch ohne das Wissen,

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dass es einmal Testbilder gegeben hat und dass sich das Bild auf der Mattscheibe des Fernsehgeräts zeilenweise aufbaut, verstehen lassen.

Meine Damen und Herren, es mag vielleicht erstaunen, aber bereits der antike Philosoph Plato misstraute Bildern, weil er die Wirklichkeit selbst für ein Bild hielt. Dieses Dilemma wurde nicht besser durch die Erfindung der Fotografie. Denn die Malerei zog sich, ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellend, zunächst mehr und mehr von jenem Terrain zurück, das sie sich mühsam erobert hatte: der möglichst perfekten, täuschend echten Wiedergabe von Wirklichkeit, um sich dieses Gebiet erst jüngst wieder zu erschließen. Parallel zur sukzessiven Zunahme an Abstraktion in den Gemälden entstand die Collage zu Anfang des letzten Jahrhunderts als zeitaktuelle Reaktion auf die Schnelligkeit und Hektik der Großstadt. Wie wir gesehen haben, verwendet Margot Witte alle diese Ausdrucksmöglichkeiten zuzüglich der Computergrafik in extrem zeitspezifischer Weise neben- und miteinander auf der Basis des grundlegenden Prinzips der Rasterung. Und vergleichbar den Pop Art-Künstlern, respektive Siegmar Polke, werden ihre Arbeiten unscharf durch die Hochvergrößerung von fotografischen Vorlagen. Dabei verzerrt die Vergrößerung des Rasters den eigentlich abzubildenden Gegenstand so sehr, dass er nur noch schwerlich erkennbar ist. Das Bild – und das sehen wir gerade in der Serie

Lookalikes und den Backfisch-Mädchen besonders gut – ist nicht mehr scharf zu stellen, weil das Zusammensetzen der Rasterpunkte zum Bild nicht mehr funktioniert. Dadurch gleitet der Blick des Betrachters fortwährend „zwischen der Darstellung und ihrer dekonstruierten, fast abstrakten Version hin und her."10

10

Nach: Voermann, Ilka: Die Bildwelt im Raster. Das „mediale" Raster im Werk von Roy Lichtenstein, Sigmar Polke und Chuck Close, in: AK Stuttgart 2012 (wie Anm. 5), S. 47.

11 Nach: Ebenda, S. 46.

Und auch in den Bildern aus der Serie

Erinnerungsspuren verstärkt Margot Witte die durch das Druckraster entstandene grobkörnige Struktur der Vorlage durch eine Überbetonung des Unscharfen. Was dahinter steckt, nämlich die Hinterfragung des Wirklichkeitsgehalts der Fotografie und die Verlässlichkeit unserer Wahrnehmung, ist letztlich das große, übergeordnete Thema von Margot Witte. Waren es am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn noch menschliche Verhaltensmuster, die sie in semi-abstrakte Muster übertrug, verwendet sie heute Muster als abstrakte Flächen, wobei das Raster durchaus als Mittel bezeichnet werden kann, die Kunst völlig von Inhalt und Narration zu befreien. Allerdings würde ich beim Anblick von Margot Wittes Arbeiten der amerikanischen Kunstkritikerin Rosalind Krauss widersprechen, die das Raster als eine „Struktur des Schweigens" bezeichnet, „die nur wiederholt, aber nichts mitteilt."11 Denn trotz abstrakter Muster, trotz der Auflösungserscheinungen, die den Bildern von Margot Witte inhärent sind und ihren Reiz auch ausmachen, ist es keine völlige Abstraktion, in die uns die Künstlerin entführt. Vielmehr wird das Individuelle, das uns als Menschen ja ausmacht, in den Serien Freestyle und Lookalikes durch das Raster in eine Form »gepresst«. Womit sie sehr nachdrücklich verdeutlicht, wie weit verbreitet der Selbstdarstellungsdrang im Internet, auf Facebook, You Tube und anderen Webseiten mittlerweile ist, wie viele Menschen dem Wunsch erliegen – und ihm auch erliegen können –, einmal (und sei es nur für einen Tag) berühmt zu sein. Und wie der Titel Lookalikes so schön impliziert, ist hier schon die Assoziation zu den Celebrities gegeben, denen viele nachzueifern versuchen in Mode, Frisur und Auftreten. Gleichzeitig überschreiten wir damit auch Grenzen, das eigene Ich löst sich unter dem Druck der von außen anstürmenden Identitäten auf. Dr. Chris Gerbing, Laudatio Margot Witte, Sulzfeld 11.11.12 5

Das wiederum hat Margot Witte – auch hier wieder ganz zeitaktuell – in der Arbeit

Borderline eingefangen. Die Persönlichkeitsstörung Borderline ist vor allem durch Impulsivität und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen charakterisiert. Bei Margot Witte scheinen die darin gefangenen Menschen die Grenze überschritten, sich selbst aufgegeben zu haben, denn sie sind gleichförmig, eine anonyme Masse. So wird aus dem Krankheitsbild das Zerrbild einer Gesellschaft, die sich zwischen virtuell und real bewegt und dabei im Auflösungsprozess bezüglich der Individualität zu sein scheint. Auch in dieser Arbeit hat Margot Witte Raster – sowohl über die dargestellten Menschen, als auch als trennende »Wand« zwischen Bild und Betrachter – gelegt. Das Raster ist bei ihr tatsächlich „das Ordnungsprinzip par excellence, und es erscheint daher als Grundlage jedweder Form von Aufzeichnungen,..."12 Julia Bulk bezeichnete das Raster in ihrem im Katalog „Rasterfahndung" publizierten Aufsatz „Der Fehler als System" als „zentrumsfreie Struktur, die sich wie ein Netz über die Fläche legen und dabei beliebig expandieren kann."13 Und genau diese Funktion hat das Raster auch in den Arbeiten von Margot Witte. Denn gerade in ihren jüngsten Arbeiten verselbständigt sich das Raster immer mehr, wird – auch hier den späten Arbeiten von Sigmar Polke durchaus vergleichbar – als Malgrund verwendet. Dieser kann an bedruckte Dekostoffe erinnern und wird gern kombiniert mit technoid anmutenden Flächen.

12 Schrimpf, Simone: Rasterfahndung. Das Raster in der Kunst nach 1945, in: AK Stuttgart 2012 (wie Anm.

5), S. 26.

13 Bulk, Julia: Der Fehler im System. Raster, Wurzelbaum und Rhizom, in: AK Stuttgart 2012 (wie Anm.

5), S. 57.

Begonnen hat dies in den Bildern der

Freestyle-Serie, bei denen das Raster aber noch begrenzt wird von anonymisierten Menschen – sie stehen wiederum in Kontrast zu den Individualsportarten, die der Titel ebenfalls impliziert. Aber in der Menge ausgetragen sind sie letztlich auch schon wieder ein Massenphänomen. Diese Rasterung anonymisierter Menschenmengen hat Margot Witte jüngst hinter sich gelassen und konzentriert sich nun, wieder von zwei Seiten kommend, auf die visuelle Wahrnehmung des Betrachters, die durch die Kombination von stofflichem Muster, Druckraster und Farbfläche, durch die eine flirrende Bildstruktur hervorgerufen wird, auf die Probe gestellt zu werden scheint. Und hat man, ob in den großformatigen Backfisch-Mädchen oder den Lookalikes scheinbar einen Anhaltspunkt gefunden, wird auch hier das Auge, die Wahrnehmung herausgefordert, will hinterfragt werden. Aber Margot Witte gibt bei aller Abstraktion, trotz der Fragmentierung ihrer Arbeiten oft mit dem Titel eine Hilfestellung zum »Lesen« ihrer Kunst. Bestes Beispiel für mich ist hier die Arbeit Stilles Wasser. Jener Teil der Leinwand, der von einer an eine Landkarte erinnernden Fläche bedeckt ist, weist ein streng lineares, in der Dicke der Striche variierendes Muster auf. Margot Witte hat hier den Barcode von stillem Wasser verwendet – wodurch die blauen, teils aufgerasterten Flächen, die den Strichcode umgeben, tatsächlich zu »stillem Wasser« im Auge des Betrachters werden. Wobei auch hier wieder ein Paradox inbegriffen ist. Denn wo finden wir denn heute noch das Ideal des klaren, reinen, stillen Wassers? In unserer hochurbanisierten Welt doch zumeist abgefüllt in Flaschen...

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Es ist ein Kreuz mit dem Geld. Man muss es sich hart verdienen, legt man es auf die hohe Kante, ist es unter Umständen trotzdem nichts mehr wert, Aber brennen tut's gut – so auch ein weiterer Titel einer Druckgrafik aus der Geld-Serie von Margot Witte. Es ist kein Wunder, dass eine so nah am Puls der Zeit arbeitende Künstlerin wie sie sich auch diesem Thema angenommen hat. Mal wird das geknüllte und dadurch wertlos erscheinende Geld zum Malgrund, der wie bedruckter Dekostoff aussieht. Mal sind die großen Scheine tatsächlich angeordnet um ein Kreuz herum, das mit ein wenig Fantasie Assoziationen zur Schweizer Flagge Dr. Chris Gerbing, Laudatio Margot Witte, Sulzfeld 11.11.12 6

hervorruft als Symbol für einen der wohl verschwiegensten Geldumschlagplätze und – immer noch – relativ sicheren Hafen des Geldes. Sie können sich sicher vorstellen, dass die Verwerfungen des Geldmarkts insbesondere die zumeist ohne Netz und doppelten Boden arbeitenden Kreativen treffen. Insofern wünsche ich dieser Ausstellung, dass möglichst viele der Besucher sich am Raster, an den Rasterbildern von Margot Witte nicht sattsehen können, die Muster, Flächen und Formen noch möglichst lange und natürlich bevorzugt an der eigenen Wand zu Hause sehen möchten, um dem Spiel des Rasters mit unserem Auge noch lange und mit möglichst großem ästhetischen Gewinn nachgehen zu können.

Vielen Dank.

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